Diese hervorragende Kolumne wurde uns dankenswerterweise vom Verlag der Berliner Zeitung zur Verfügung gestellt.
Von ROSE-ANNE CLERMONT
In den meisten Berliner Wohnungen, in denen ich bisher gewesen bin, gibt es, unabhängig von der Höhe des Einkommens der Bewohner, mindestens ein Objekt aus vergangenen Zeiten, das von Generation zu Generation weitergereicht wird. Manchmal ist es ein alter Schrank, der ein kleines bisschen zu mächtig ist und deshalb auffällt zwischen den sonst modernen Möbeln. Manchmal ist es auch ein silberner Kerzenständer oder ein goldenes Medaillon aus einer vergangenen Zeit, die jemand wie ich nur durch historische Fotografien oder durch Kunstwerke aus Museen kennt.
Für die meisten von uns, die dort leben, wo sie keine Familiengeschichte haben, sind die einzigen nachvollziehbaren Abstammungsspuren in Gesichtern zu finden – Gesichtern auf Fotos, die kaum mehr als zwei Generationen zurückgehen.
In dem Fall, dass unsere Vorfahren aus armen Ländern kommen, ist es wahrscheinlich, dass wir kein Schwarz-Weiß-Foto haben, das eine ernst schauende Urgroßmutter in einem hochgeschnürten Kleid neben ihrem ernst schauendem Mann zeigt, aus dessen Anzughose eine Taschenuhr baumelt. Eine Taschenuhr, die hundert Jahre später sein Urenkel erben wird.
Ich halte immer den Atem an, wenn ich solche Erbstücke sehe und erkundige mich nach ihrer Herkunft. Diesen Objekten, die Zeitenwenden überlebt haben, wohnt eine eigene Faszination inne. Die Geschichten, die meine Eltern und Großeltern mit mir teilten, waren vergleichsweise kurz und jung, und sie handelten von Orten, an denen keiner von uns mehr lebte.
Es gab für die Erinnerungen meiner Großmutter nie greifbare Beweise, sie hatte keine Erbstücke zu vergeben. Das, was sie mitgebracht hatte, hätte die Zeiten auch nicht überdauert, es war kein Silber, Gold oder Porzellan. Meine amerikanische Einwandererfamilie widmete sich den neuen Symbolen des Reichtums: neuen Autos, neuer Kleidung, neuen Möbeln. Die wenigen alten Möbelstücke, die ich besitze, stammen von Leuten, die mir unbekannt sind.
Millionen von Menschen, die künftig gezwungen sein werden, ihr Zuhause zu verlassen, werden weder Erbstücke mitbringen können, noch genug Geld besitzen, um Luxus kaufen zu können. Während die Menschen in den reichen Ländern genug Geld haben werden, um sich Wasser, Infrastruktur und Schutz vor den kommenden Stürmen, Überflutungen und Dürren zu kaufen, die durch ihre CO2-Fußabdrücke noch verschlimmert werden. Man nennt es Klima-Apartheid, wenn arme Länder, die den geringsten CO2-Ausstoß haben, die Effekte des Klimawandels am stärksten zu spüren bekommen und zugleich nicht die finanziellen Möglichkeiten haben, sich von den Folgen freizukaufen. Wenn sie fliehen müssen, werden sie nichts retten und mitnehmen können, was darauf hindeutet, dass auch sie eine Heimat haben, eine Geschichte.
Wenn die Meere Inseln verschlingen, auf denen Häuser gestanden haben, wenn die Flüsse austrocknen und Fischer und Bauern von dem Land vertreiben, von dem sie bisher gelebt haben, wenn steigende Temperaturen das Leben an bisher bewohnten Orten unmöglich machen, dann werden die Reichen ihre Grenzen noch besser schützen. Sie werden ihre Grenzen als Zeichen ihrer Ansprüche auf Heim und Eigentum stärken und auch auf die Rohstoffe und Ressourcen, die sie als die ihren bezeichnen.
Zur Autorin: Rose-Anne Clermont wurde 1971 in New York als Tochter haitianischer Einwanderer geboren. Nach ihrem Journalismus-Studium an der Columbia University kam sie 1998 als Fulbright-Stipendiatin nach Deutschland. Clermont arbeitet als Journalistin und hat ihre Erfahrungen als Migrantin in dem Buch „Buschgirl. Wie ich unter die Deutschen geriet“ beschrieben. Sie lebt mit ihrem deutschen Mann und ihren Kindern in Berlin. Der Mädchenname ihrer Mutter lautet übrigens: Sarrazin.