Adaline (18/19)

Küste vor Maine (Foto: David Mark auf Pixabay)

In einem verlassenen Fort an der Atlantikküste Maines sind Kit Carson und Washakie bei ihrem alten Freund Norman Schutzbier zu Gast. Dieser beschwört zunächst in Washakie Erinnerungen an die Vergangenheit herauf. Danach ist Kit Carson an der Reihe, und zuletzt der dritte Gast der Runde, Louie Simmons. Und wie bei seinen Vorgängern spielt in seinem Rückblick ein schönes Halbblut mit dem Namen Adaline die Hauptrolle. Tief in der Nacht endet schließlich diese lange Séance.

Es war die frische, salzige, da vom Meer kommende Nachtluft, die die drei Männer wieder ganz zu sich brachte. Sie zog durch die Schießscharten der alten Festung, die Durwan geöffnet hatte.
Im Becken in der Mitte des Raumes waren die letzten Kohlen verglüht. Nur langsam schälten sich wieder Umrisse aus der Finsternis.
Simmons‘ Kopf ruckte vom Tisch hoch. Er stöhnte kurz auf.
Norman Schutzbier entzündete eine Wandfackel.
„Zeit, ins Bett zu gehen“, verkündete er. „Nehmt mit, was ihr gesehen habt. Nehmt es für immer mit.“

*

Kit Carson, Washakie und Louis Simmons hielten vor der ehemaligen Festung ihre Pferde an den Zügeln. Norman Schutzbier stand bei ihnen, während der uralte Passamaquoddy im Eingangstor stehengeblieben war.
So früh am Morgen konnten sie einen Sonnenaufgang über dem Atlantik bewundern, der sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis prägen würde. Das ernste Weißblau des unermesslichen Atlantik. Ein dunkelblauer Wolkenkeil, der sich von Norden an den östlichen Horizont erstreckte. Wie ein ausgestreckter Finger wies er auf die Sonne, die sich soeben aus dem Meer zu erheben schien. Über ihr war der Himmel, wo die Wolken ihre Dichte verloren hatten, königsblau, hellblau aber hinter ihnen. Eine Wolke aus luftigem Goldsand schien über dem Meereshorizont zu schweben. In unmittelbarer Nähe des Himmelsgestirns schimmerten Himmel und Meer in einem von Gold durchbrochenem dunklen Violett. Das Kreischen der Möwen zog über das Meer.
Beim Frühstück war, als bestünde eine geheime Übereinstimmung, der vergangene Abend nicht angesprochen worden. Die Trennung fiel den drei Freunden leicht. Sie waren zuversichtlich, sich wiederzusehen.
Einen halben Tagesritt weiter nahm auch Louis Simmons von Kit Carson und Washakie Abstand. Ihm aber lag noch etwas auf der Zunge.
„Kit … ich habe dir nie richtig gesagt, wie leid mir das alles mit Adaline getan hat. Ich war so ein Narr. Und ich konnte es ihr nicht mehr sagen.“
„Unsere Fehler begleiten uns ein Leben lang“, erwiderte der blonde Indianeragent. „Damit wir sie nicht noch einmal machen. Lebe wohl, Louie.“
Die Tagesetappe reichte aus, um die vollständige Veränderung der Landschaft zu erleben. Die kälteliebende Weißfichte, der die oft heftigen Winde vom Meer her nicht unangenehm waren, wich Papierbirken, Zitterpappeln und Buchen. Tamaracklärchen zogen Hügel vor. Die noch fernen Bergen waren von Rotfichten, Balsamtannen und Pechkiefern bewachsen.
Sie ritten schweigend, bis Washakie seinen alten Freund endlich ermutigte.
„Aus dir will etwas heraus, Gelbhaar, das Simmons‘ Anwesenheit verhindert hat.“
Kit fühlte sich ertappt, war aber nicht verwundert. Dafür kannten sie sich schon zu lange und zu gut.
„Unter Normans Dämpfen ist mir Adaline erschienen, Indianer.“
„Mir auch“, gestand Washakie. „Doch ich habe sie älter gesehen als sie jemals geworden … als wir sie jemals gesehen haben.“
„Mir ging es nicht anders“, verriet der ehemalige Trapper und Scout staunend. „Älter, als sie jemals … hätte aussehen können.“
„Wie aber haben wir sie zuletzt gesehen?“ dachte der hochgewachsene alte Schoschonenhäuptling laut nach. „Als unglücklich, als zerrissen zwischen zwei Welten – der Welt des roten Volkes und der Welt der Weißen. Dann: in einem Lebensbund, der Gefängnis und Martyrium zugleich war … wie hätte sie so jemals ihre Erfüllung finden können?“
„Und jetzt ist sie uns beiden wohl – als glücklich erschienen? Als … vollendet? Als jemand, der geworden ist, was er werden konnte und immer wollte. Ohne uns … oder nach uns?“
„Als hätte sie uns eine Botschaft gesandt: Weint nicht um mich. Ich habe meinen Weg und mein Glück gefunden. Sie war immer deine Lieblingstochter, nicht wahr?“
Kit nickte versonnen.
„Ja, das war sie immer. Und sie ist es bis heute geblieben. Oder, um an deine letzten Worte anzuknüpfen: Vielleicht ist sie es gar noch.“

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