Adaline (2)

Küste vor Maine (Foto: David Mark auf Pixabay)
Ludwig Webel alias Leslie West

Ludwig Webel ist, neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller, im Hauptberuf als studierter Diplomübersetzer für Italienisch und Englisch bei der Stadt München im Tourismus tätig. Er wird also auch in „unregelmäßiger Regelmäßigkeit“ über seine Heimatstadt München berichten.

Die Erzählung „Adaline“ wurde dem „Kit Carson Sammelband“ 2 von Leslie West entnommen, der in der Edition Bärenklau erschienen und über diesen Link als ebook und gedruckt erhältlich ist:
https://www.amazon.de/Schamanengeheimnisse-Kit-Carson-Sammelband-2-ebook/dp/B01CMLBTJA

An der Küste Maines taucht Adaline, eine geübte Schwimmerin, in den Wogen des Atlantiks. Ihre Bahnen führen weit hinaus. Währenddessen nähern sich zwei ältere Männer, die seit Jahrzehnten befreundet sind, ihrer Wohnstatt.

„Wie lange haben wir Doc Norman Schutzbier nicht mehr gesehen, Gelbhaar?“
Bei Washakies Frage zügelte Kit Carson sein Pferd und ließ seinen Blick nachdenklich über die Landschaft gleiten. Intensiver Nadelholzduft strömte bei jedem Atemzug in die Lungen. Pinienwälder und -haine zogen sich über flache Hügel hinweg. Moore, sanftgrün und gelb wie aus Märchen, lagen zwischen ihnen. Bedrohlich ragten aus ihrer Mitte schwarze Baumgerippe in den Himmel.
„Zu lange nicht, Indianer.“ Der blonde Trapper, Scout und Indianeragent, der seine Lebensmitte längst überschritten hatte, bemerkte, dass Washakie im gleichen Moment sein Pferd zum Stehen gebracht hatte. Der hochgewachsene Schoschonenhäuptling, wie Kit seit vielen Jahren zu einer Legende auf dem nordamerikanischen Kontinent geworden, stand bereits weit im siebten Lebensjahrzehnt. Längst mehrfache Familienväter, verließen sie immer noch bisweilen ihre Scharen, um zusammen loszuziehen, wie sie es mehr als dreißig Jahre lang getan hatten. Gemeinsam hatten sie Abenteuer bestanden, die für zehn Menschenleben gereicht hätten.
„Warum, glaubst du, hat er sich an der Ostküste zur Ruhe gesetzt? Er schien sich in San Francisco doch sehr wohl zu fühlen.“
„Trotz seines Alters ist er ruhelos geblieben in seinem Streben nach Wissen. Hier, in den frühesten Niederlassungen des Weißen Mannes auf diesem Kontinent, sind über hundert Jahre Kultur herangewachsen, während der Westen noch nicht einmal ganz erschlossen ist. Und an diese Seite des Kontinents bringen Schiffe aus der Alten Welt das Neueste aus Wissenschaft und Forschung, trifft sich Altes und Neues zur gegenseitigen Befruchtung.“
„Neugierig war der Alte schon immer, Gelbhaar.“
„Wir kennen ihn seit dreißig Jahren“, bestätigte Kit. „Als wir damals mit einem Treck nach Kalifornien zogen, hätte es weit mehr Ärger mit den Blackfeet gegeben, wenn er ihnen nicht bei einer sehr schweren Geburt geholfen hätte, die für sie von großer Bedeutung war. Als wir die Verschwörung aufdeckten, die unseren Kontinent in drei getrennte Machtbereiche aufgeteilt hätte, ist er uns beigestanden, indem er sich unter einem anderen Namen bei den Mormonen eingeschlichen hat. Und er war bei der Expedition dabei, die beweisen sollte, dass die Griechen bereits vor zweieinhalbtausend Jahren Amerika entdeckt haben.“
„Werden ihn sein Forscherdrang und seine ewige Ruhelosigkeit dennoch hier sesshaft werden lassen?“
„Das ist bei ihm nicht gesagt, Indianer. Norman war bis heute immer für neue Überraschungen gut, ungeachtet seines Alters.“
„Dass er aber aus dem sonnigen Südwesten genau gegenüber in den rauhen Nordosten ziehen musste …“ Washakie schüttelte den Kopf. „Für seine alten Knochen wäre die kalifornische Sonne eine späte Wohltat geblieben.“
„Maine atmet alten Geist“, erwiderte Kit. „Hier wurde Henry Wadsworth Longfellow geboren. Hier hat Harriet Beecher Stowe ‚Onkel Toms Hütte‘ geschrieben. Hier haben sich Nathaniel Hawthorne und Herman Melville zum Austausch von Gedanken frei von jeder Rivalität getroffen, und sie werden noch nicht die letzten Geistesritter gewesen sein, die Maine fasziniert. Der Doc weiß, was er tut.“
Das Rauschen des Atlantiks war bereits zu vernehmen. Sie mussten der Küste noch ein Stück folgen, bis sie des gewaltigen granitenen Gemäuers ansichtig wurden.
Ein altes Fort, kreisrund gebaut, mit zwei Stockwerken, nach allen Seiten von Zinnen gekrönt. Die ersten Siedler waren bereits vor ungefähr 250 Jahren gekommen. Gegen die Indianer hatten noch Erdwälle und hölzerne Palisaden genügt. Erst um 1750 waren die ersten Bollwerke aus Granit entstanden, von denen knappe drei Dutzend an der Küste entlang errichtet worden waren. Sie hatten Piraten, französischen, britischen und spanischen Schiffen getrotzt. Kanonenkugeln ihrer Kriegsschiffe steckten bis heute in den Wällen. An dieser sturmumtosten Küste hatte 1775 die erste Seeschlacht der amerikanischen Revolution stattgefunden. Den bis dahin eher friedlichen Zivilbewohnern von Machia war es mit dem Kaufmannsschiff „Unity“ gelungen, das kampferprobte britische Kriegsschiff „Margaretta“ aufzubringen.
Und eine solche, längst verlassene Granitfeste am Meer hatte Doc Norman Schutzbier zu seinem Alterssitz erkoren.
Aber wie lange noch verlassen? Es war zweifelhaft, dass dieser unselige Bürgerkrieg bis zum Schluss nur zu Lande geführt werden würde …
Die Freunde ließen den Anblick auf sich einwirken, bevor sie näherritten.

(Fortsetzung folgt)

Hat Ihnen unser Artikel gefallen?