Zum 80. Jahrestag der Reichsprogromnacht fand auf dem jüdischen Friedhof unter Teilnahme von etwa 70 Menschen eine Gedenkfeier statt. Die musikalische Umrahmung hatte der Posaunenchor Bad Wildungen übernommen. Heute dokumentieren wir die Ansprache von Bürgermeister Ralf Gutheil.
Sehr geehrte Damen und Herren,
vor 80 Jahren, vom 9. auf den 10. November 1938 brannten die Synagogen, und teilweise auch schon einen Tag zuvor. Sie brannten in Baden, Württemberg und Hessen und auch hier in Waldeck-Frankenberg, so wie im gesamten Deutschen Reich. Sie brannten in Österreich und in der Tschechoslowakei.
Der 9. November ist der Tag, an dem organisierte Schlägertrupps jüdische Geschäfte und Gotteshäuser in Brand setzten. Es ist der Tag, an dem tausende Juden misshandelt, verhaftet oder getötet wurden. Spätestens an diesem Tag konnte jeder in Deutschland sehen, dass Antisemitismus und Rassismus bis hin zum Mord staatsoffiziell geworden waren.
Diese Nacht war das offizielle Signal zum größten Völkermord in Europa.
„Die Leidenschaften sind entfesselt, die Gebote Gottes missachtet, Gotteshäuser, die anderen heilig waren, sind ungestraft niedergebrannt worden, das Eigentum der Fremden geraubt oder zerstört. Männer, die unserem Volk treu gedient und ihre Pflicht gewissenhaft erfüllt haben, wurden ins KZ geworfen, bloß weil sie einer anderen Rasse angehören! … Ja, es ist eine entsetzliche Saat des Hasses, die jetzt wieder ausgesät worden ist. Welch entsetzliche Ernte wird daraus erwachsen.“
Mit diesen klarsichtigen Worten trat der schwäbische Landpfarrer Julius von Jan am 16. November 1938 vor seine kleine Gemeinde. In seiner Predigt zum Buß- und Bettag sprach er die bittere Wahrheit über die Verbrechen aus, die wenige Tage zuvor, am 9. November, in ganz Deutschland verübt worden waren. Julius von Jan gehörte zu den wenigen, die bei dem Novemberprogrom nicht weggesehen hatten; er gehörte zu den ganz wenigen, die gegen den Naziterror das Wort erhoben.
Was in jener Nacht vom 9. auf den 10. November geschah, war deutlich sicht- und hörbar gewesen. Hunderte von Synagogen gingen in Flammen auf, Tausende jüdischer Geschäfte und Wohnungen wurden zerstört. Mehr als 1.000 Juden wurden am 9. November oder unmittelbar danach getötet, etwa 30.000 verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt. Auch bei uns in Bad Wildungen wurde in der „Reichskristallnacht“, wie das Progrom wegen der vielen zu Bruch gegangenen Fensterscheiben zunächst verharmlosend genannt wurde, brannte die Synagoge. Für die jüdische Bevölkerung war diese Nacht ein Alptraum. Der antisemitische Wahn der Nationalsozialisten hatte sich in einem bis dahin unbekannten Ausmaß gewaltsam Bahn gebrochen.
Bei den Ausschreitungen handelte es sich um eine staatlich angeordnete und gesteuerte Aktion, die im Wesentlichen von NSDAP-, SA- und SS-Mitgliedern durchgeführt wurde. Als Vorwand diente die Verzweiflungstat eines jüdischen Jugendlichen. Er hatte erfahren, dass seine Eltern, in Deutschland lebende polnische Juden, in Hannover verhaftet und zur polnischen Grenze deportiert worden waren, wo sie tagelang im Niemandsland umherirrten. Daraufhin schoss er auf den deutschen Gesandtschaftsrat in Paris, der am 9. November seinen Verletzungen erlag. Unmittelbar danach ergingen die Befehle, Aktionen, wie es hieß, gegen Juden durchzuführen, und wurde es Polizei und Feuerwehr untersagt, einzugreifen.
Das Novemberprogrom war der erste Schritt auf dem Weg zum Holocaust. Die Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung hatte bereits 1933, unmittelbar nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten, begonnen. Während die ersten antijüdischen Gesetze und Verordnungen vor allem auf darauf gerichtet waren, die Juden aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen und ihnen ihre Staatsbürgerrechte zu nehmen, wurden sie mit dem Progrom ganz existenziell an Leib und Leben bedroht. Die brennenden Synagogen sollten letztlich zu den Gaskammern und Verbrennungsöfen von Auschwitz führen.
Wenn wir heute des 9. Novembers 1938 gedenken, dann müssen wir an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte erinnern, an einen Zivilisationsbruch, den viele nicht für vorstellbar gehalten hatten. Mit Trauer, mit Entsetzen, mit Scham blicken wir auf das, was Menschen, die seit Jahrhunderten in Deutschland lebten, angetan wurde, nur weil sie Juden waren. Fassungslos stehen wir vor der Erkenntnis, wozu Menschen fähig sind.
Sich solchem Gedenken zu stellen ist anstrengend und schmerzhaft. Aber es ist notwendig. Wir, die Nicht-Opfer, sind es den Opfern und ihren Angehörigen schuldig. Denn sie können der Erinnerung nicht entkommen; sie werden das was sie selbst erleiden mussten oder was ihren Familien angetan wurde, mit durch ihr ganzes Leben tragen. Die Opfer zu vergessen, das hieße, sie ein zweites Mal zu ächten.
Und wir sind die Erinnerung uns selbst schuldig. Wir können nicht einfach nur die Rosinen aus der Vergangenheit herauspicken und beispielsweise am 9. November nur an den Fall der Mauer denken. Wir müssen die ganze Geschichte sehen, um handlungsfähig für Gegenwart und Zukunft zu sein. Denn Gedenken umfasst nicht nur den Blick in die Vergangenheit, sondern enthält auch eine Verpflichtung für die Gegenwart.
Wehrte den Anfängen – es ist schon so oft gesagt worden und kann offenbar nicht oft genug betont werden. Heute ist diese Verpflichtung umso dringlicher, als auch in der Gegenwart des Jahres 2018 Antisemitismus und rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten bei uns anzutreffen sind. Die Hetzparolen der Neonazis ziehen immer weitere Kreise und finden erschreckenderweise vor allem bei Jugendlichen Anklang. Immer wieder müssen wir von geschändeten jüdischen Friedhöfen oder von Anschlägen auf KZ-Gedenkstätten und Synagogen hören. Ausländerfeindlichkeit und Hass auf andere haben schon bis zum Mord geführt. Dabei ist offene Gewalt nur die Spitze des Eisbergs, jedem Anschlag liegt bereits eine verfestigte Haltung oder ein die Tat begünstigendes Klima zugrunde.
Wieder stehen wir vor der Frage, wie Antisemitismus und Rassismus entstehen und was wir dagegen tun können. Erneut fragen wir uns, woher Gewaltbereitschaft kommt, wodurch Ausschreitungen hervorgerufen werden und wie wir hier gegensteuern könnten. Wieder sehen wir uns vor der Aufgabe, überall Akzeptanz dafür zu erreichen, dass Andersgläubige, Andersfarbige oder Andersdenkende zu unserer Welt dazugehören; wieder wird nicht fraglos anerkannt, dass alle Menschen zwar nicht gleichartig, wohl aber gleichwertig sind. Immer von neuem ist nach Erklärungen für Gewalttaten gegen die vermeintlich anderen zu suchen, weil sich die gesellschaftlichen Bedingungen ändern und sich Geschichte nicht in gleicher Weise wiederholt. Und immer wieder müssen wir uns fragen, wie wir informieren, Aufklärung betreiben, die Menschen ansprechen können, um die Adressaten wirklich zu erreichen.
So bedrückend der Anlass ist, so wichtig ist es, dass diese Fragen ins Zentrum der gesellschaftlichen Wahrnehmung gerückt sind. Uns alle hat im vergangenen Jahr die Erkenntnis aufgerüttelt, dass die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Straftaten und die Zahl der Rechtsextremisten, die gewalttätig sind oder Gewalt befürworten, in letzter Zeit stark angestiegen sind. Daraufhin hat es nicht nur Debatten gegeben, sondern es sind auch eine Reihe von Aktionsbündnissen und Programmen ins Leben gerufen worden.
Wir haben einmal mehr gesehen, dass die Werte, denen wir uns verpflichtet fühlen, Freiheit und Toleranz, Demokratie und Menschenrechte, immer aufs Neue verteidigt beziehungsweise offensiv vertreten werden müssen. Gewiss – es ist nicht immer leicht, Zivilcourage zu zeigen, es kann auch heute unangenehme Folgen haben. Aber es ist heutzutage doch um vieles leichter als 1938, als Pfarrer Julius von Jan allein dastand und ihm seine aufrechte Haltung Misshandlungen durch SA-Leute und eine mehrmonatige Gefängnisstrafe eintrug. Freiheit und Demokratie brauchen Bürgerinnen und Bürger, die nicht wegsehen, wenn Menschen um ihre Rechte oder ihre Würde gebracht werden. Freiheit und Demokratie leben davon, dass alle Bürgerinnen und Bürger die gleiche Achtung finden, ganz gleich, welcher Ethnie oder Religionsgemeinschaft sie angehören.
Vielleicht dürfen wir es als ermutigendes Zeichen für die Verfasstheit unseres Landes und die deutsch-jüdischen Beziehungen betrachten, dass heute wieder Juden in Deutschland und auch hier in Bad Wildungen leben. Nach dem unvorstellbaren Grauen der Shoah ist es keine Selbstverständlichkeit, wenn sie hier ihr Zuhause sehen, auch wenn einige noch auf den sprichwörtlich „gepackten Koffern“ sitzen. Und vielleicht spricht es auch für unser Land, dass Menschen aus anderen Regionen der Welt vor Unterdrückung und Verfolgung hierher fliehen. Dass dieses Miteinander, auch in unserer Gemeinde, möglich geworden ist, daran darf nie wieder gerüttelt werden.
Die Erinnerung an den 9. November 1938 zeigt uns, wohin Rassenwahn führen kann. Die Erinnerung an einen anderen 9. November, den des Jahres 1989, zeigt uns, wie wichtig den Menschen Freiheit und Selbstbestimmung sein können. Deshalb kann die Botschaft, die dieser schicksalsträchtige Tag unserer Geschichte für uns hat, nur lauten: den Anfängen jeglicher Diskriminierung zu wehren und uns für die Menschenrechte einzusetzen.