Adaline (15/19)

Küste vor Maine (Foto: David Mark auf Pixabay)

In einem verlassenen Fort an der Atlantikküste Maines sind Kit Carson und Washakie bei ihrem alten Freund Norman Schutzbier zu Gast. Dieser beschwört zunächst in Washakie Erinnerungen an die Vergangenheit herauf. Danach ist Kit Carson an der Reihe, und zuletzt der dritte Gast der Runde, Louie Simmons. Und wie bei seinen Vorgängern spielt in seinem Rückblick ein schönes Halbblut mit dem Namen Adaline die Hauptrolle.

In den Bergen über dem Sonoma Valley lag Adaline mit ihrem Gewehr auf der Lauer.
Während sich von den Hügeln Weinberge, Viehkoppeln und Obstgärten bis ins Tal erstreckten, bot hier ein dichter Bestand von Grautannen, Zuckerkiefern, Gelbkiefern und Rauchzedern Sichtschutz. Zwischen ihnen wuchsen weitläufige Bestände weißblühenden Hartriegels. Es war die Zeit der Gelben Gauklerblumen, nachdem die roten „Snow Plants“ verblüht waren, während die Pantherlilien erst im Juli ihre Farben erstrahlen lassen würden.
Keine Menschenlänge von dem Felsbrocken entfernt, hinter dem sie kauerte, landete ein leuchtend blauer Haubenhäher, der sie aber unbedingt gesehen haben musste. Vermutlich war es einer dieser furchtlosen kecken Vögel, die sich auch unten im Tal sorglos in der Nähe der Menschen zu bewegen pflegten. In den Wäldern konnte man beobachten, dass er die anderen Waldbewohner mit seinem Ruf nur deshalb warnte, um selbst ungestört zu seinem Fressen zu kommen. In den bestellten Feldern aber war er für andere Vögel längst zu einer Art Lotse geworden, der als erster die Brosamen, die in Menschennähe abfielen, aufpickte, woraufhin andere Vögel in großer Zahl aus den Wipfeln heranflogen und seinem ermutigenden Beispiel folgten.
Das unterhalb des Felsens angepflockte Schaf blökte unvermittelt auf. Der Haubenhäher stob jäh in die Lüfte.
Adaline erstarrte und hielt die Luft an. Nur ihre scharfen Augen bewegten sich unmerklich, während sie das gegenüberliegende Buschwerk durchforsteten.
Da war er. Plötzlich waren die zwei grün irisierenden Lichter zwischen den Blättern zu erkennen.
Der Berglöwe hatte das angepflockte Schaf sicher seit längerem gewittert. Er liebte es nicht, eine Beute lange zu verfolgen. Er zog es vor, stunden- und oft tagelang in einem Hinterhalt zu liegen, bis ein Reh oder Wapiti, Pferd oder Schaf vorüberkam, dem er auf den Rücken springen konnte, um ihm die Drossel durchzubeißen, während er sich mit einer Pranke im Nacken verkrallte. Ein fliehendes Tier verfolgte er nur, wenn er äußerst hungrig war. Das angepflockte Schaf, das nun immer jämmerlicher blökte, musste ihm als unverhoffte Beute erscheinen.
Ein Berglöwe tötete immer, wenn er auch nicht hungrig war, denn wie alle Tiere aus dem Katzengeschlecht war er außerordentlich blutlüstern und schien sich an dem Angstduft seines Opfers zu berauschen. Das warme, quellende, aus vollen Lebensadern spritzende Blut, und das frische, ganz frische Fleisch reizten ihn.
Es war ein noch relativ junges Weibchen, dem die Sehnen und Muskeln unter dem sauberen Fell spielten. Jetzt setzte es zum Sprung an.
Adalines Schuss bellte auf. Er fuhr dem Raubtier genau zwischen die Augen, während es noch aus dem Gebüsch hervorschnellte. Das durchdringende, schrille Kreisen erstarb, als es neben dem Schaft auf dem Boden aufschlug.
Jäh fiel noch ein Schuss. Adaline wirbelte herum, als ein Schatten auf sie fiel. Im letzten Sekundenbruchteil konnte sie sich noch zur Seite rollen, bevor der massige Körper genau dort zu Boden krachte, wo sie eben noch gelegen hatte, um mit einigen letzten Zuckungen zu verenden.
„Sie waren zu zweit“, erklang eine Stimme von jenseits ihres Verstecks. „Kaum zu glauben, dass so ein alter Bursche noch so ein junges Weibchen für sich gewinnen konnte.“
Adaline sprang auf. Ihr Herz schlug immer noch wie rasend. Dem Raubtier vor ihren Füßen fehlte ein ganzes Ohr. An der Schulter musste ihm ein Rivale einst ein Stück Fleisch herausgerissen haben. Seine verkrümmte linke Vorderpfote musste einst Bekanntschaft mit dem Fangeisen eines Menschen gemacht haben. Tauber Altersglanz überzog das Fell.
Der Mann, der mit gesenktem Gewehrlauf ins Freie trat, mochte nur unwesentlich älter als sie sein. Er war mittelgroß, gut gebaut und wirkte vertrauenerweckend. Als er vor Adaline stand, stieg ein anerkennendes Leuchten in seine Augen, denen Adalines Blick nicht auswich.
„Ich hatte von den Bauern gehört, dass ein Raubtier unterwegs sein soll.“. Er trat dem alten Berglöwen leicht in die Rippen. „Aber zwei? Normalerweise buhlen die Weibchen um die Männchen. Wie mag es dieser alte Stinker nur geschafft haben, ein so prachtvolles Pumamädel an seine Seite zu bekommen?“
„Das muss nicht immer nur bei Vierbeinern der Fall sein.“
Adaline waren diese Worte entfahren, bevor sie es verhindern konnte. Das mochte gut auf den jüngst überstandenen Schrecken zurückzuführen sein. Aber dennoch …
„Ich heiße George Stilts.“
„Adaline … Simmons. Sie können gern das schönere Fell nehmen. Oder wie darf ich Ihnen sonst meine Dankbarkeit bekunden?“
George Stilts Gebaren verriet eine gewisse Verlegenheit, die ihn nur noch sympathischer machte.
„Lassen Sie uns ans Werk gehen. Danach könnten wir einen guten Bissen vertragen. Da Sie auf Raubtierjagd waren, nehme ich an, dass Sie von einer Ranch kommen. Und dort verhungert man nicht.“

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