Von Peter Fritschi
Cahuapanas 1983
1983 reiste ich auf dem Landweg von Norden nach Süden durch die Länder Südamerikas.
Ich kam gerade von einem längeren Aufenthalt im Amazonastiefland, genauer gesagt vom Oberlauf des Amazonas, dem Rio Pitchis in Perus Regenwald. Ich besuchte dort die Campa-Indianer in Cahuapanas. Anschließend machte ich mich wieder auf den Weg, immer Richtung Süden.
Von Cahuapanas zunächst mit dem Motorboot zurück nach Puerto Bermudes, von dort mit dem Privatflieger ins Andenhochland nach Cuzco, dann mit dem Bus an die Pazifikküste über Arequipa-Arica nach Antafagasta. Von dort besuchte ich Salar de Atacama. Atacama ist eine 1200 km lange Küstenwüste und die trockenste der Erde. Eine faszinierende Einöde, Temperaturen am Tag um die 30°, in der Nacht kann das Thermometer auf -15° sinken. Im Turnus von etwa sechs bis zehn Jahren kommt es zu kurzen, heftigen Niederschlägen. Diese führen dann für einen kurzen Zeitraum zum Erblühen der Wüste, allerdings auch zu großen Überschwemmungen. In der Erde der Atacamawüste schlummert eines der größten Lithiumvorkommen. Über die mögliche Verwendung dieses Rohstoffs machte ich mir damals keine Gedanken. Meine Reiseabsichten waren andere, das Kennenlernen anderer Kulturen, die Faszination der malerischen Landschaft, das Aufsuchen der Einsamkeit von Tierra de Fuego und als passionierter Segler die Besichtigung der wichtigsten Schifffahrtsroute der Roaring Forties. Vor Fertigstellung des Panamakanals war die wichtigste Handelsroute vom Atlantik zum Pazifik die nach dem portugiesischen Seefahrer benannte Magellanstraße, einer Abkürzung zur Vermeidung der gefahrvollen Kap-Hoorn-Passage.
Campa-Indianer in Cahuapanas © Photo Peter Fritschi
Mit meinen Gedanken war ich immer noch bei den Campas, den im Amazonastiefland lebenden Indianern, die von der zunehmenden Brandrodung des Regenwaldes durch die Rinderzüchter, Goldsucher und Landvermesser bedroht sind. Diese Indianerkultur hat auf mich bis zum heutigen Tag einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Entsprechende Notizen sind in meinem peruanischen Tagebuch zu finden. Über die Verwendung und Förderung des Rohstoffes Lithium dachte ich auf dieser Reise nicht nach. Erst 35 Jahre später, als sich mein Sohn Moritz auf die Spuren seines Vaters begab, an denselben Orten Station machte und ich nach seiner Rückkehr mit ihm die Erfahrungen seiner Reise austauschte, wurde mir klar, dass dieser Rohstoff Lithium in der heutigen elektromobilisierten Welt eine immer größere Bedeutung erlangt.
In mein peruanisches Tagebuch schrieb ich 1983, nachdem ich einige Wochen mit den Campa-Indianern in Cahuapanas unter jungsteinzeitlichen Bedingungen gelebt hatte und über unsere zivilisierte Welt nachdachte, in meinem Fazit folgende Worte nieder:
Resümee
Ich treffe auf eine Welt ohne Geld und ohne Zeitmessung. Wir haben verlernt und vergessen, ohne Geld zu leben, um zu überleben. Im Regenwald wären wir ohne unseren indianischen Guide verloren – mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Angelschnur, mit oder ohne Kanu und mit all unserem Wissen, welches letztendlich nur darauf ausgerichtet ist, Geld zu verdienen, um Waren anzuhäufen, in einer Gesellschaft, die ihren eigenen Untergang programmiert hat.
Wir haben verlernt, in einer Welt zu leben, in der die Zeit durch die Wiederkehr der Jahreszeiten und den Auf- und Niedergang der Sonne bestimmt wird. Unser Leben ist so künstlich wie das Licht, welches wir benutzen, um den Tag zu verlängern.
Die Indianer benötigen keine Entwicklungshilfe. Nötig haben diese die Industrienationen, in denen ein Leben ohne Neid, Hass und Aggression nicht mehr vorstellbar ist. Diese Länder haben aufgehört zu lernen, weil sie meinen, alles schon zu wissen. Sie werden es auch schaffen, mit Hilfe ihrer Expansionsgier und ihrem Missionseifer die letzten Reste von Menschlichkeit und intakter Ökologie zu zerstören. Die Indianer sind jedem Fremden gegenüber freundlich und diese Freundlichkeit war in der Vergangenheit meist der Auftakt zu einer Tragödie. Diese Freundlichkeit führte zu einer immer größeren Dreistigkeit der weißen Besucher und am Ende standen, wie die Geschichte der nordamerikanischen Indianer beweist: Landraub – Krieg – Unterdrückung – Völkermord.
Epilog
Was die Indianer denken und fühlen, entzieht sich unserer Kenntnis. Wie sie leben, wie sie sich untereinander und uns gegenüber verhalten, wie sie ihre Umgebung gestalten, können wir erleben und erfahren.
Ihr Verhältnis zur Natur erscheint uns als etwas Universelles und sie selbst erleben wir als einen Teil dieser Natur. Das ist es, was uns so fasziniert und uns zur Reflexion über Gesellschaft und Natur zwingt.
Cahuapanas / Selva 1983
Zugegeben, und sicher auch in der Rückschau mit dem heutigen Wissen besetzt, eine etwas romantisch idealisierte Betrachtungsweise.
Zurück in die Zukunft, ins Jahr 2019 oder folgen wir der Logik des Misslingens?
Das Zeitalter der Elektromobilität hat begonnen. 97 Millionen Smartphonenutzer allein in Deutschland, 980.000 E-Bikes und 142.000 Elektroautos rollen auf unseren Straßen und Wegen, Tendenz steigend. In Stromspeichern steckt das meiste Lithium. In fast allen im Alltag verwendeten Geräte mit Batterien, vom Akkuschrauber bis zum Golfcaddy, steckt Lithium.
Im Dreiländereck Bolivien, Chile, Argentinien sollen sich 70 Prozent der weltweiten Lithium-Vorkommen befinden. In Zeiten der Energiewende wächst der Bedarf nach Lithium rasant und somit auch das Bruttosozialprodukt in Chile und die Profitrate der Konzerne. Doch der Abbau zerstört die Lebensgrundlage der indigenen Bevölkerung. Es ist die Heimat der Kollas, eines der wenigen indigenen Völker, die es noch in Südamerika gibt. Sie leben von Kunsthandwerk und Lama-Züchtung und pflegen ihre jahrtausendealte Kultur. Seit mit der extensiven Förderung von Lithium begonnen wurde, sterben die Tiere. So schreibt Susanne Götz über die Kehrseite der Energiewende: „Die Kleinen werden geboren und sterben. Das geht schon seit einiger Zeit so. Sie kommen mit Behinderungen und Krankheiten zur Welt, mit krummen Beinen und Zysten. An denen sterben sie dann nach kurzer Zeit.“
Salar de Atacama, die Salzstelle von Atacama, ist das größte aktive Evaporit-Becken im Bezirk Región de Antofagasta in Nord-Chile. Evaporite, auch als Salzgesteine bekannt, sind chemische Sedimente und Sedimentgesteine, die durch intensive Verdunstung oder gar Eindunstung saliner, wässriger Lösungen entstehen. Der Salar liegt in der Atacamawüste, in einer abflusslosen Senke am Fuß der Andenkordilleren, umgeben von zahlreichen besiedelten Oasen. Er besteht aus einer harten, rauen, weißen Schicht Salz, verunreinigt mit Wüstensand. Darunter befindet sich eine lithiumhaltige Sole. Man kann sich unschwer vorstellen, dass sich die Gewinnung des Rohstoffes in dieser unwirtlichen Gegend sehr bald als Mühsal für die Arbeitskräfte herausstellte. Zu den harten Arbeitsbedingungen kommt die Verschwendung des wertvollen Süßwassers durch die Gewinnung von Lithium. Für die Herstellung von einer Tonne Lithiumsalz werden zwei Millionen Liter Wasser benötigt (Quelle: Wikipedia), und das in einer der trockensten Gegenden der Erde. Einige Millionen Kubikmeter salz- und lithiumhaltige Lösung werden in riesige Becken geleitet und mit Frischwasser angereichert. Durch die intensive Sonneneinstrahlung verdunstet das Wasser. Über die Abbaubedingungen und die Reaktion der Bevölkerung in den Ländern sagt die deutsche Wissenschaftlerin Juliane Ströbele-Gregor: „Die Umweltbelastungen durch Staub und die Wasserentnahme sind enorm. In Chile gibt es örtlichen Bürgerwiderstand. Die lokalen Reaktionen reichen von Zustimmung und Forderung nach Beteiligung an den Einnahmen bis hin zu lokaler Ablehnung und Widerstand.“ 10 Kilo Lithium wird für eine Elektro-Auto-Batterie benötigt. Experten schätzen, dass bis 2030 jedes Jahr mehr als 240.000 Tonnen Lithium in der Automobilindustrie gebraucht werden. Das Problem ist, dass die Maschinen während der Förderung des Lithiums den Untergrund komplett umpflügen, um neue Brunnen oder Transportwege zu bauen. Dadurch zerstören sie die natürlichen Barrieren zwischen Salz- und Süßwasser und kontaminieren das Wasser. Zudem bohren sie nach Süßwasser für die Lithiumproduktion. Aber das hat Folgen für die Brunnen der Anwohner und die natürlichen Grundwasservorkommen. Für die Ureinwohner dürfte dieser wachsende Lithium-Bedarf zu einem erstzunehmenden Problem werden. Ist das von uns so gewollt?
Was würde ich wohl heute, 36 Jahre nach Cahuapanas/Peru, in mein Tagebuch schreiben?
Die Welt ist zusehends komplexer, die Widersprüche zwischen Arm und Reich sind so groß wie nie zuvor. Der Mensch ist von Natur aus egoistisch und zugleich altruistisch veranlagt und das ist gut so, das sicherte ihm bisher das Überleben. Wo aber bleibt die Vernunft? Gibt es die reine Vernunft oder ist sie der Beliebigkeit unterworfen? Was ist mit der Moral? Ist die Moral vernünftig? Kann die Vernunft unmoralisch sein? Moral und Vernunft, ein Gegensatz? Hilft die Religion, aber wenn ja, welche? Oder ist die Menschheit als Störfaktor der göttlichen (natürlichen) Ordnung wie einTyrannosaurus Rex gar auf dem Planeten überflüssig? Was sollen und können wir tun und was sollten wir lassen?
Jean-Jacques Rousseaus „retour a`la nature“ ist auch keine Lösung. Fragen über Fragen. Wer jetzt die Beantwortung dieser Fragen erwartet, den muss ich leider enttäuschen. Es gibt von mir keine Rezepte für die Zukunft, auch keine Visionen. Über den Erhalt der Welt müssen sich klügere Menschen wie z.B. Dietrich Dörner den Kopf zerbrechen. „Die Logik des Misslingens – Strategisches Denken in komplexen Situationen“, erschienen 1992, ist übrigens eines meiner Lieblingsbücher und auch heute noch erkenntnisreich sowie empfehlenswert. Dietrich Dörner gibt eine wissenschaftliche Auskunft zu Problemlösungen – mehr nicht.