Adaline (9/19)

Küste vor Maine (Foto: David Mark auf Pixabay)

Infos zum Autor und seinem Werk finden Sie in der Folge 2.

In einem verlassenen Fort an der Atlantikküste Maines sind Kit Carson und Washakie bei ihrem alten Freund Norman Schutzbier zu Gast. Dieser beschwört zunächst in Washakie Erinnerungen an die Vergangenheit herauf.

„Ich wollte, du könntest bleiben.“
Washakie wurde plötzlich bewusst, dass er die letzten Worte laut gesprochen hatte. Seine Augen fanden die unmittelbare wirkliche, augenblickliche Umgebung wieder. In seinem anderen Bewusstsein saß er immer noch mit dem kleinen weißen Mädchen am Fluss.
„Es war nicht alles, Washakie“, hörte er wie in Trance des Stimme des alten Freundes Norman Schutzbier. „Du siehst noch mehr. Kehre zurück an den Fluss.“

*

Da war aber kein Fluss mehr. Er, Washakie, stand vor einem ungleich größeren Gewässer. Hinter ihm war Land, vor ihm jedoch ein unendliches Meer.
Prärieblume stand neben ihm.
Prärieblume?
Wie konnte diese erwachsene Frau Prärieblume sein? Sie war doch …
Die Augen der jungen Frau fielen auf ihn. Ihr Körper war voll erblüht. Groß, schlank, sehnig, stolz, mit langen schwarzen Haaren und einem Gesicht, aus dem mehr zu lesen war als aus jedem anderen, in das Washakie jemals geblickt hatte.
Überwindung. Selbstgefundenheit. Wissen.
„Wer bist du?“ fragte Washakie bang.
„Du kennst mich schon lange“, erwiderte die junge und zugleich alterslose Frau. „Durch dich habe ich gelernt. Durch Halwofunano habe ich gelernt. Durch meinen Tod habe ich gelernt.“
„Wer bist du?“ fragte Washakie mit zunehmendem Unbehagen.
„Ich bin durch Wirbelwinde gegangen“, war die Antwort. „Wirbelwinde, die du mir erklärt hast.“

*

Washakies Reise endete, als er die Augen aufschlug. Nur langsam stellten sie sich wieder auf die anderen drei anwesenden Männer ein, von denen zwei seit Jahrzehnten seine engsten Freunde waren. Alle schwiegen.
Die Mauern der uralten verlassenen Festung schützten sie wie ein Mutterleib. Draußen war Dunkelheit, im Inneren Zeitlosigkeit. Durch die Mauern vermeinte Washakie das Sinken der Sonne nachzufühlen, das Ausglühen der Pinien und Marschen, das Ansteigen des Meeres, das nachts dem Mond entgegenstrebte. Er glaubte das fast lautlose Gluckern der Priele zu vernehmen, die sich durch die Salzmarschen an den Strand schlängelten, dort aber nicht direkt ins Meer mündeten, sondern unterhalb einer Düne in ein breites, rasch fließendes Gewässer. Einen Fluss, dessen Weg hier ebenfalls sein Ende fand?
Auch der feurige Glanz der Kohlen in dem Becken, um das sie herum saßen, ging zurück. Der Geruch der Kräuter, die Durwan hineingestreut hatte, nahm neue Nuancen an. Im fast unmerklichen Flackern des Kohlenlichts hatte Norman Schutzbiers Gesicht einen neuen, fremden Charakter angenommen. Saturnische Züge, Schrunden und Krater zeichneten sich auf seinem Antlitz ab. Erst jetzt wurde dem hochgewachsenen alten Schoschonenhäuptling beinahe erschrocken bewusst, dass die Augen des Freundes bis zuletzt auf ihn gerichtet gewesen waren. Jetzt aber ließ er seinen Blick auf Kit fallen. Dieser zog leicht die Augenbrauen hoch. Auch er schien sich in einer Art Trance zu befinden. Doc Schutzbier nickte ihm auffordernd zu.
„Besser, Sie schließen ebenfalls die Augen, Kit. Ihr Weg führt weit zurück. Doch nehmen Sie vorher noch einen tüchtigen Schluck. Durwan hat Ihr Glas aufgefüllt. Leeren Sie es bis zur Neige.“

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