Adaline (8/19)

die fortsetzungsgeschichte, auch als ferienlektüre geeignet

Küste vor Maine (Foto: David Mark auf Pixabay)

Infos zum Autor und seinem Werk finden Sie in der Folge 2.

Halwofunanos Tod

Dass Halwofunano an manchen Tagen nur kurz aus dem Zelt kam und rasch wieder darin verschwand, kam vor. So bemerkte man zuweilen gar nicht, ob sie es an manchen Tagen überhaupt verlassen hatte. Niemand war so aufdringlich, sie ohne einen Grund zu stören.
Als Adaline sie jedoch einmal drei Tage nicht zu Gesicht bekommen hatte, wurde das Mädchen unruhig. Ein banges Gefühl beschlich sie. Es verstärkte sich, als sie Washakie vor dem Zelt der Uralten stehen sah.
Der hochgewachsene Schoschonenhäuptling fasste sie behutsam an den Schultern. Sein Gesichtsausdruck war ernst.
„Du kannst jetzt nicht zu deiner Freundin, Prärieblume. Der Medizinmann ist bei ihr.“
Adaline schluckte.
„Geht es ihr nicht gut?“
„Das Alter ist keine Krankheit.“ Adaline hatte den Eindruck, dass der Häuptling nach Worten suchte, die ihm nicht leicht fallen würden. „Es kommt der Zeitpunkt, an dem die mugua, die die Weißen Seele nennen, einen Ruf erhält.“
Das Mädchen erschrak. Es verstand sofort, was damit gemeint war.
„Darf ich zu ihr?“
„Hast du keine Angst, sie … zu sehen?“
Adaline schüttelte energisch den Kopf. Der Häuptling nickte schwer.
„Aber bitte nur kurz. Sie ist in einem Zustand, in dem sie nicht auf dich reagieren kann. Und du darfst den Schamanen nicht in seiner Konzentration stören.“
Das Mädchen schlug scheu die Zeltplane zurück und verschwand lautlos im Inneren. Nach wenigen Minuten kam Adaline wieder heraus. Sie war blass geworden, wirkte jedoch gefasst.
„Gehen wir an den Fluss, Prärieblume“, schlug der Häuptling vor. „Es ist gut, an einem Fluss zu sprechen. Er kann schlimme Gedanken von dir wegtragen und dir gute entgegenführen. Setzen wir uns an sein Ufer.“
Als dies geschehen war, konnte Adaline ihre Fragen nicht länger zurückhalten.
„Sie hatte weiße Farbe auf dem Gesicht. Der Medizinmann hatte sie auch auf dem Oberkörper aufgetragen. Was hat das zu bedeuten?“
„Es ist evi-n, Kreide, ein wichtiges Heilmittel. Der Medizinmann wird auch evi-n denüpi genannt, Kreidemann. Du hast gesehen, dass sich auch Tänzer damit bemalen.“
„So besteht noch Hoffnung?“
Washakie schüttelte ernst den Kopf.
„Die Gefahren des letzten Wegs sind groß. Die Kreide verbindet Halwofunano und den Schamanen, der ihr auf ihrem Weg Kraft geben will. Kennst du Gebirge?“
Adaline bestätigte mit einem Nicken.
„Ihre Spitzen sind das Reich der Geister, von dem man ins Jenseits blicken kann“, fuhr Washakie fort. „Unsere Tänzer umkreisen Zedern und Immergrün, die für Wege stehen. Auch die Straße ins Land der Toten ist mit Gras bewachsen, und sie führt zunächst in steinerne Höhen hinauf. Über den grünen Gebirgspass muss die von Wirbelstürmen gebeutelte Seele sich den Weg ins Totenreich erkämpfen. Der Schamane ist wie der Sterbende mit Kreide bemalt und liegt neben ihm, um ihm auf seinem Weg ins Jenseits zur Seite zu stehen. Auf dem Weg hinauf drohen Wirbelwinde die Seele zu zerstäuben. So fürchten die Schoschonen auch die sichtbaren Wirbelwinde, stehen sie doch für den Kampf einer Seele auf dem Weg ins Jenseits. Ihre Kraft daraus kann sie nur aus ihrem irdischen Leben zuvor beziehen: war sie aufrichtig, war sie tapfer, war sie duldsam? Jede gute Eigenschaft, jede gute Tat stärkt den Kampf gegen die Wirbelstürme auf dem Weg ins Jenseits. Der Schamane beschwört diese guten Taten der Vergangenheit, während er gegen die Wirbelstürme kämpft, die auf dem Weg ins Jenseits lauern. Legt sich der Schamane neben im Kampf schwer verletzte Krieger, deren Geist bereits ebenfalls in solche Wirbelstürme geraten ist, kann er sie bisweilen noch retten!
Das, war die Weißen Milchstraße nennen, bezeichnen wir Schoschonen als Wirbelsäule, als Rückgrat des Kosmos, umgeben von Organen, die die Weißen Sterne nennen oder auch Planeten. Diese Planeten kommen für uns Schoschonen aus der Niere der Sonne. Kit Carson hat dir bestimmt flüchtige große Steine am Himmel gezeigt, brennend mit feurigem Schweif oder nur flüchtig vorbeihuschend, denn er ist ihrer kundig. Dies sind … Ausscheidungen des unvorstellbar gewaltigen Körpers, aus dem das Jenseits besteht, in das die Seele eines Sterbenden hineinzieht. Der Leib Damë Apës.“
„Eine Reise aus dem eigenen Körper in einen ungleich größeren“, wagte das Mädchen zu formulieren.
„Du bist klüger als alle Kinder, die ich bisher gekannt habe“, gestand Washakie. „Ich wollte, du könntest bleiben.“

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