Adaline (6)

Küste vor Maine (Foto: David Mark auf Pixabay)

Das neunjährige Halbblut Adaline lernt bei den Schoschonen eine neue Welt kennen.

Infos zum Autor und seinem Werk finden Sie in der Folge 2.

Auch in den Schulen der Weißen war Adaline eine gelehrige Schülerin gewesen. Hier aber tat sich eine neue Welt für sie auf. Es war nicht nur die völlig fremde Sprache, mit der sie keine Schwierigkeiten hatte. Manche Begriffe gab es nur im Indianischen, andere nur im Schoschonischen.
Monate gab es keine bei den Schoschonen. Umso interessanter war es für Adaline zu kombinieren, wie das Schoschonenjahr auf die Verhältnisse der Weißen umgerechnet verlief. Dazu musste sie sehr präzise Fragen stellen. Doch Halwofunanos Geduld schien unerschöpflich.
Bisons wurden nur im Oktober und November und von Februar bis Mai gejagt, wobei der Gewinn in keinem Verhältnis zum Aufwand zu stehen schien. Jetzt, im Spätsommer, war Ruhe. Wochen waren vergangen, seit ein Teil des Stammes vom jährlichen Rendezvous zurückgekommen war, dem berühmten Trappertreffen, zu dem auch die Schoschonen erschienen, um ihre eigenen Handwerksprodukte gegen Mehl, Zucker, Kaffee, Eisentöpfe, Werkzeuge, Waffen und Munition einzutauschen oder gegen die Seemuscheln anderer Indianerstämme. Danach wurden Wild, Bergschafe und Kaninchen gejagt. Im August grub man nach Wurzeln, im September und Oktober jagte man Antilopen. Im bitterkalten Januar gab es Pemmikan, getrocknetes, mit Beeren, Salz und Kräutern versehenes Fleisch. Im Moment wurde gefischt.
Adaline, die ihre Mutter nie gekannt hatte, war es, als habe sie eine Großmutter gefunden. Oder Urgroßmutter?
Manchmal suchte sie sich am Fluss eine einsame Stelle, an der sie ungestört in die langsam dahin fließenden Fluten starren konnte. Schwimmen hatte sie noch nicht gelernt. Dennoch zog sie der Fluss magisch an. Er schien zu ihr zu sprechen, aber noch verstand sie ihn nicht.
Sie schreckte auf, als sie einen Schatten auf sich fallen sah und fuhr herum. Aber es war nur Halwofunano.
„Was zieht dich allein an den Fluss, Prärieblume?“ fragte die Uralte.
„Ich weiß es nicht“, gestand das Mädchen.
„Wasser ist der Ursprung“, erklärte Halwofunano. „Alles war einst nur Wasser, bis Damë Apë – das heißt: unser Vater – die Wasserleute aus ihm hervorrief. Die Weißen nennen ihn Gott. Er rief einst die Wasserleute, und Biber, Otter und Bisamratte antworteten. Die Bisamratte holte Schlamm vom tiefsten Grund, aus dem Gott die Erde formte. Ba nüwï-tsï, die Wasserleute, das sind auch die Fische, die Enten und die Fischottern. Unsere Schamanen haben ihre Macht aus mythischen Vorzeiten, als es noch keine klare Trennung zwischen Mensch und Tier gab. Früher waren alle Tiere Indianer und konnten reden. Deshalb helfen Tiere bis heute den Schamanen. Das Grundwasser, das fließende Wasser, das Wasser der Niederschläge, von Tannennadeln grün gefärbt. Der Adler fliegt zum Himmel. Er blickt auf glänzendes grünes Wasser herunter: Gwinan gas dugumbaiyu. Buhi ba roanzi marukandu havenòrë.“
„Hat der Adler für die Schoschonen eine besondere Bedeutung?“ wollte Adaline wissen.
„Der Adler ist der heilige Vogel, aus seinen Schwingen werden Fächer für Heilpraktiken bereitet, er fegt Krankheiten hinweg und bringt Linderung. Die Sonnentänzer der Schoschonen blasen auf Pfeifen aus Adlerknochen, während sie tanzen. Das Reich des Adlers, der Himmel, ist rein und frei von Krankheiten.“
„Bei euch haben die Tiere Macht. Bei den Weißen können sie nur in ihren Märchen sprechen.“
„Nicht nur unser Stamm misst den Tieren Macht und Einfluss zu, sondern auch die anderen Völker, die da waren, bevor die Weißen kamen. Dem Bergpuma, doiya rukuvich, gehören Wild, Elch, Bergschaf und Antilope. Und sprechen können Tiere auch bei uns. Ein Maulwurf kann Donner verursachen. Ein Waldkaninchen tötet die Sonne und schafft eine neue. Biber und Bisamratte haben, wie bereits erwähnt, zur Erschaffung der Welt beigetragen. Das Lied der Schwarzkehl-Nachtschwalbe verwandelt den Frosch in den Mond. Sogar im Tod haben einige noch Macht: Ein auf den Rücken gelegter toter Frosch bringt Regen. Dreht man ihn wieder um, hört es auf zu regnen. Die Ente singt die Morgensonne herbei, das Waldkaninchen Wind, Eule und Ente rufen klares Wetter.“
„Und der Bison? Du hast gesagt: Früher waren alle Tiere Indianer und konnten reden.“
Halwofunano schüttelte energisch den Kopf.
„Der Bison – gwitsu no – war nie ein Indianer.“

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