Adaline (4)

Küste vor Maine (Foto: David Mark auf Pixabay)

Kit Carson und Washakie besuchen ihren alten Freund Norman Schutzbier, der an der Küste von Maine lebt. Ein weiterer Gast ist vor ihnen eingetroffen: Louie Simmons, der mit Kit Carson eine gemeinsame Vergangenheit teilt.

Ein uralter Indianer brachte das Essen. Krustentiere, noch dampfend. Sie rochen sehr verführerisch. Als er alles abgesetzt hatte, verschwand der Ureinwohner so lautlos wie er gekommen war.
„Lobster“, stellte Kit fest. Er ließ den Wein im Glas kreisen, den ihnen der Doktor kredenzt hatte. Das Aroma Kaliforniens schmeichelte ihrem Geruchssinn. Wein, der von einer milden an eine rauhe Küste gereist war, um dort die Bestimmung zu finden, die ihm zugedacht war. Er war goldfarben und nicht leicht.
„Hummer sind das Arme-Leute-Essen der Küstenbewohner“, erläuterte Norman Schutzbier. „Die hiesigen Farmer verwenden die Panzer als Dünger, indem sie die kalkhaltigen Schalen auf ihren Äckern unterpflügen. Es gibt sie in unendlichen Mengen.“
„Schön, dass Sie einem so alten Mann noch Lohn und Brot gewähren, Norman“, bemerkte Kit.
„Er könnte bei seinen Urenkeln leben, wenn er wollte. War lange Jahrzehnte unter den Weißen. Hat sich ein bescheidenes Vermögen erspart, mit dem er in regelmäßigen Zuwendungen die Seinen auf vielfältige Weise unterstützt. Doch er wollte lieber bei mir bleiben.“
„Welcher Stammesgruppe gehört er an? So gut ich mich westlich des Missouri mit den Zugehörigkeiten auskenne, so wenig weiß ich über die Indianer der Ostküste. Im Westen wissen wir, das man sie als Abnaki zusammenfasst, ‚Menschen der Morgenröte‘. Aber das ist nur der Oberbegriff.“
„Durwan ist ein Passamaquoddy“, erklärte Doc Schutzbier. „Es gibt noch Penobscot und Malescet. Die vierte Stammesfamilie, die Micmac, gehört nicht den Abnaki an. Wir wissen noch immer viel zu wenig über sie. Ihre Ursprünge reichen in geheimnisvolle Zeiten zurück.“
„Was wissen wir überhaupt über die Indianer?“ stimmte Kit zu. „Einst führten sie Kriege untereinander wie die zerstrittenen europäischen Nationen. Dann hielten sie zu Franzosen, Engländern oder Amerikanern oder waren gegen sie. Oder bekriegten sich, weil der eine Stamm zu den einen Weißen hielt, der andere Stamm zu anderen Weißen. Einzig gemeinsam ist ihnen, dass sie alle zurückgedrängt werden oder ganz verschwinden. Kulturen gehen verloren, und mit ihnen ein Wissen, das nicht wiedererlangt werden kann.“
„Durwan lehrt mir mehr als ich ihm“, äußerte sich Norman Schutzbier. „Und ich schreibe alles auf.“
Er war in einen Hausmantel gekleidet, der am Hals geschlossen war und dessen Ärmel sich an den Gelenken weiteten. Der Stoff fiel lang herunter, so dass er kaum das Schuhwerk sehen ließ. Kit fühlte sich an einen Magier erinnert, wie er ihn früher in Kinderbüchern abgebildet gesehen hatte.
Beim Essen unterhielten sie sich über gemeinsame Abenteuer und Bekannte, über den unseligen Bürgerkrieg und über das Alter, das ihnen bevorstand. Zwischendurch schwiegen sie. Norman Schutzbier liebte das Schweigen und pflegte es als Kunst, die er in die Runde weiterzuvermitteln vermochte. Dazu gehörte, das er es durch bestimmte Gesprächswendungen einzuleiten verstand, so dass die Sprechpausen kein bloßes Unterlassen der Fortführung des Gesprächs waren, sondern fruchtbares Weiterdenken oder konzentrierte Meditation auslösten. Der Arzt maß dem alten Sprichwort, dass Schweigen Gold sei, eine größere Tiefe bei als sie gemeinhin der Sinn erfasste. Die Weingläser wurden emsig nachgefüllt.
Draußen war es längst dunkel geworden. Abendwinde strichen um die Festung, sangen in deren Steinnischen.
Nachdem der uralte Indianer die großen Porzellanschalen mit den Bergen leerer Hummerpanzer, die Teller, die Messer, die Wasserschalen und Tücher wegtrug und nur das Brot und den Wein am Tisch ließ, stellte er zu Füßen der Gäste ein Kohlebecken auf den steinernen Boden. Dem Becken setzte Durwan ein metallenes Gestell auf, in dessen Mitte eine Schale waagrecht hing, die an das Drittel einer Kugel erinnerte. Er kratzte aus einem Teller einen Berg Kräuter hinein, die mit einer würzigen Flüssigkeit getränkt waren, die einen zusätzlichen aromatischen Geruch verströmte. Dann begann er behutsam die Kohlen anzufachen, wobei er die züngelnden Flammen unter der Schale klein hielt, bis die Kohlen in einem ruhigen feurigen Glanz strahlten. Schließlich löschte er alle Lampen bis auf eine und zog sich zurück.
„Was wird das?“ wollte Kit wissen.
„Lasst euch überraschen“, erwiderte Norman Schutzbier. „Die Kräuter kommen aus Südamerika, die Tinktur, mit der sie getränkt wurden, aus dem fernen China. Wir gehen auf Reisen, ohne diese Feste zu verlassen.“
Dabei sah er zunächst Washakie an.

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