Adaline (3)

Küste vor Maine (Foto: David Mark auf Pixabay)

Infos zum Autor und seinem Werk finden Sie zu Beginn von Folge 2.

Der Trapper, Scout und Indianeragent Kit Carson und der Schoschonenhäuptling Washakie sind längst zu Legenden des Wilden Westens geworden. In fortgerücktem Alter wollen sie einen vertrauten Freund besuchen, den deutschstämmigen Arzt Norman Schutzbier, den sie 30 Jahre zuvor auf einem Treck nach Kalifornien kennengelernt haben. Längst wohnt er in einer verlassenen Festung an der Atlantikküste im Bundesstaat Maine.

Sie stiegen ab. Washakie hielt die Pferde, während Kit anklopfte.
Von drinnen wurde unverzüglich Bescheid gegeben. Womöglich war ihre Annäherung beobachtet worden. Die Tür schwang auf.
Wie wenig Norman Schutzbier sich doch verändert hatte. Ein Gesicht, das immer eine feste, entschlossene und sichere Prägung aufgewiesen hatte. Diese nach außen wirkende Bestimmtheit stellte aber nur eine Seite seines Wesens dar. Dahinter lag etwas anderes, das zuweilen nicht minder deutlich war. Es war etwas Bedächtiges, Abwartendes, Wissendes. Sein Interesse galt den Wissenschaften und den Menschen gleich. Er war ein Gelehrter und sprach doch so, dass ihn alle verstanden. Kit vermochte nicht zu ermessen, welche und wie viele Erkenntnisse der Arzt in den letzten Jahrzehnten noch angesammelt haben mochte. Die Zeiten hatten sich geändert. Dem nicht unproblematischen Reifen einer jungen Nation und dem Erschließen des Westens waren politische und wirtschaftliche Konflikte gefolgt, die den nordamerikanischen Kontinent erschütterten. Norman Schutzbier indes schien zu jenen Menschen zu gehören, welche allein durch ihre Präsenz und Ausstrahlung die Unruhe zu bannen vermochten, die von einer Welt ausging, in der sich vieles zu beschleunigen und nichts gleich zu bleiben schien.
„Kit! Washakie! Wie wenig euch die Zeitläufte doch zugesetzt haben.“
„Ihnen anscheinend noch weniger, Norman. Ihre Neugierde scheint Sie jung zu halten.“
„Jeder Moment des Suchens ist ein Moment der Begegnung, Freunde. Seid willkommen und kommt herein, sobald ihr abgesattelt habt.“
Der Raum, den sie wenig später betraten, musste einen großen Teil des Erdgeschosses der ehemaligen Feste einnehmen. Die Fenster waren durch grüne Vorhänge verdeckt. In der Mitte befand sich ein riesiger hufeisenförmiger Tisch, außen von Stühlen mit acht hohen Rückenlehnen umstanden. Zwischen zwei Sitzen sprang jeweils eine Lehne vor, die als Stütze für die Arme diente, aber auch breit genug zum Ablegen von Büchern war. Ein offenes Feuer brannte in einem Kamin aus Ziegelstein. Die Flamme stieg steil und ohne Rauch empor. Sie nährte sich von trockenen Wacholderzweigen, die einen bitteren Duft verbreiteten. Auf dem Gesimse stand ein Leuchter, von dessen Kerzen ein sanftes Licht ausging, das den weitläufigen Raum nur unwesentlich erhellte. Schädel und Trophäen von Tieren hingen an den Wänden und von der dunklen Decke. Nicht alle konnte Kit, der sich in seinen Jahrzehnten als Trapper und Scout den größten Teil der nordamerikanischen Flora und Fauna erschlossen hatte, eindeutig zuordnen. Er schloss daraus, dass diese Schädel Arten gehört hatten, die längst im Strom der Zeit untergegangen waren. Geschuppte Riesentiere, die manchmal auf vier, manchmal auf zwei Beinen gelaufen waren. Raubtiere und Pflanzenfresser, größer als alle heutigen Lebewesen zu Land, die man kannte. Aus einem titanischen, einem vormenschlichem Zeitalter.
Hinter einer der Rückenlehnen, auf die sie zugingen, erhob sich jemand, in der offensichtlichen Absicht, die Neuankömmlinge ebenfalls zu begrüßen.
„Louie!“ staunte Kit. Er brachte es indes nicht fertig, Louis Simmons, dem langjährigen Weggefährten, die Hand zu schütteln. Auch Simmons verhielt im Ansatz der Bewegung und ließ sich auf seinen Stuhl zurückfallen.
Der frühere Trapper und Scout und jetzige Indianeragent erinnerte sich an die gemeinsamen kämpferischen Begegnungen mit den Comanchen, als Simmons und er den Sangre de Christo Pass hinaufgezogen waren. An die gemeinsamen Handelsfahrten auf Dampfschiffen auf dem Missouri. Der vierschrötige, bullige Simmons mit seiner ruhigen, doch entschlossenen Art war stets ein verlässlicher Partner gewesen.
Besser wäre es wohl gewesen, sie wären immer nur Handelspartner geblieben.
Dann aber war es zu jener schicksalhaften Begegnung gekommen …
Adaline.

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