Zu Neujahr: Dem Geheimnis der Zeit auf der Spur

„Bewahren und Gestalten“: Iris Schulz im Gespräch mit Peter Fritschi

"MeerZeit" (Fotos: Iris Schulz)

Wenn Zeit online sich zum Jahreswechsel den Vers „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ von Hermann Hesses Gedicht „Stufen“ als Titel für eine Kolumne ausleiht, dann bieten wir unseren Leserinnen und Lesern einen Dreizeiler von Erich Kästner:

Wirds besser? Wirds schlechter? fragen wir jährlich.
Sein wir doch ehrlich,
leben ist immer lebensgefährlich.

Zudem können wir noch etwas Besonderes mit Lokalkolorit bieten. Ein Interview mit Bildern der Anraffer Künstlerin Iris Schulz.

Iris Schulz – eine Bereicherung für ein Dorf im nordhessischen Edertal

Es ist fast eine Plattitüde, dass seit Menschengedenken jede gesellschaftspolitische Veränderung Gewinner und Verlierer hervorbringt. „Fluch und Segen“ liegen eng beieinander. Heute möchten wir Sie mit einer Künstlerin bekanntmachen, die im sozialistischen Teil Deutschland aufwuchs, dort zur Schule ging, heute in ihrer Wahlheimat, einem kleinen nordhessischen Dorf lebt und arbeitet. Iris Schulz hat, um mit den Worten des Architekten der deutschen Einheit zu sprechen, den Mantel der Geschichte ergriffen und den Weg zwischen den Welten erfolgreich beschritten. Das kleine Dorf Anraff im Edertal hat somit, bedingt durch die Deutsche Einheit, eine kulturelle Bereicherung erfahren.

Ihr großes, aktuelles und zentrales künstlerisches Thema, ist die „Zeit“, die Vergänglichkeit der Dinge und die Relativität der Zeit. Was macht die Zeit oder der Zeitgeist mit uns und den Dingen, die uns umgeben? Die Antwort auf diese Fragen werden in Ihren Bildern und Objekten sichtbar. Ihre Objekte, um mit Karl Marx zu sprechen, haben nicht nur Tausch-, sondern auch Gebrauchswert. Das heißt, ihre Kunstgegenstände bestechen nicht nur durch Ästhetik und Harmonie sondern auch durch Ihre Funktionalität. (pf)

Iris Schulz mit einem ihrer Zeitfenster.

Peter Fritschi: „Frau Schulz, die Botschaft, welche Ihre Bilder und Objekte ausstrahlen, heißt „Bewahren und Gestalten. – Wie müssen wir das interpretieren? Was wollen sie dem Betrachter vermitteln? Was ist Ihr künstlerischer Auftrag?“

Iris Schulz: „In einer Zeit, in der unfassbar viele – auch fast neue Dinge auf dem Müll landen, ist es mir mehr und mehr ein Bedürfnis geworden, noch brauchbare Materialien für meine Arbeit zu verwenden. Ob es nun die ausgemusterten Zahnräder aus dem Fahrradladen sind oder alte Kuchenformen, das Schwemmholz von der Nordseeküste und vieles andere mehr, daraus entstehenden dann im Atelier ungewöhnliche Uhren und andere Objekte. Das schont nicht nur die Rohstoff-Reserven, wenn auch nur ein ganz bisschen, sondern auch den schmalen Künstler-Geldbeutel und ich finde, dass bereits gebrauchte Gegenstände einen besonderen Charme haben, weil sie eine Geschichte erzählen und jedes Teil ein einzigartiges Äußeres hat, was mir dann die Anregung zur weiteren Verarbeitung gibt. So entsteht dann Neues aus Altem.“

Fussballuhr

Peter Fritschi: „Kann man Ihre Kunstobjekte im weitesten Sinne als Gebrauchskunst, als angewandte Kunst oder als Dekorationskunst im Sinne der Bauhaustradition, als eine dem Menschen im Alltag nützliche Kunst, bezeichnen?“

Iris Schulz: „Ja, das trifft es ganz gut. Ich mag aber auch Kunstobjekte, die einfach nur schön oder beeindruckend sind, mehr nicht. Aber die lassen sich noch schwerer verkaufen.“

Peter Fritschi: Die Bauhauskunst gilt weltweit als Heimstätte der Avantgarde der klassischen Moderne auf allen Gebieten der freien und angewandten Kunst. Sehen Sie sich in dieser Tradition?“

Iris Schulz: „Ehrlich gesagt, habe ich nie versucht mich irgendwo einzuordnen, und meine Werke sind wohl alles andere als modern. Mir ist die Bauhaus-Kunst nicht besonders nah, da mir die Formen nicht gefallen. Der Jugendstil mit seiner Mischung aus Verspieltheit und Klarheit begeistert mich viel mehr.“

Peter Fritschi: „Ihr großes, aktuelles und zentrales Thema, welches sich in Ihren Objekten spiegelt, ist die „Zeit“, „die Vergänglichkeit“ beziehungsweise „die Relativität der Zeit?“ Welche Bedeutung hat die Zeit in Ihrem Schaffen?“

Iris Schulz: „Das Thema „Zeit“ beschäftigt mich seit einigen Jahren sehr intensiv, und das nicht nur beim Bau von Uhren, vielleicht, weil ich die 40 mittlerweile überschritten habe oder weil einige aus meiner Familie weit „vor der Zeit“ gegangen sind… Aber das ist es nicht allein. Mir ist aufgefallen, wie widersprüchlich mit dem Thema „Zeit“ umgegangen wird. Auf der einen Seite wird die Zeit in einer Gesellschaft, die vom Effektivitätsgedanken in Trab gehalten wird, schon fast zum Feind erklärt. Ein Beispiel ist der Begriff „Zeitfenster“, den ich beim Bau einer Uhr aus einem alten Fensterflügel mit viel Freude umgedeutet habe. Auf der anderen Seite wird Zeit im wahrsten Wortsinne „totgeschlagen“ mit einem aufgeblasenen APP-parat von permanenter Ablenkung. Nicht zu vergessen das Netzwerkeln zum Austausch überwiegend relevanzfreier Informationen. Stellt sich die Frage: Was machen wir mit der uns zur Verfügung stehenden (Lebens-)Zeit? Und was macht die Zeit oder der Zeitgeist mit uns und den Dingen, die uns umgeben? Ist Altern nur negativ??? Der „Zahn der Zeit“ lässt doch Vieles reifen und interessanter werden – nicht nur den Wein, auch Menschen, Häuser, Bäume…“

Im Takt
Zeitfenster2016

Peter Fritschi: „Frau Schulz, eine letzte Frage. War für Sie die deutsche Einheit Fluch oder Segen?“

Iris Schulz: „Diese Frage kann ich für mich persönlich nicht klar in eine Richtung beantworten. Das wäre nicht stimmig, dafür ist die Thematik einfach zu vielschichtig.
Ich versuche, mich kurz zu fassen. Gewonnen habe ich die wunderbare Möglichkeit, frei und selbständig künstlerisch zu arbeiten, was in der DDR kaum oder nur unter großen Schwierigkeiten möglich war.
Und ich kann wohnen und leben, wo ich möchte, ob nun wie seit fast sieben Jahren hier im Edertal oder auch tausende Kilometer entfernt – wenn es mich mal woanders hinziehen sollte. Verloren habe ich den Glauben an die Realisierbarkeit einer menschlichen und gerechteren Gesellschaftsordnung. Auch die DDR ist – wie etliche andere sozialistische Staaten – nicht über die „Versuchsphase“ hinausgekommen, und letztlich kann man mit Dogmatismus und Zwang niemanden zum „besseren Menschen“ wandeln.
Tja, und der Kapitalismus mit seiner Tja, mit seiner Anbetung des materiellen Wachstums – gegen geistiges Wachstum wäre ja nichts einzuwenden – ist auch nicht wirklich geeignet, die besten Seiten im Menschen zu wecken und zum Tragen zu bringen. So sind wir für mein Empfinden quasi von einem gesellschaftlichen „Mängelkonzept“ ins nächste gestolpert. Na ja, machen wir das Beste draus.

Peter Fritschi: „Frau Schulz wir wünschen Ihnen weiterhin viel, vor allem auch wirtschaftlichen Erfolg und danken Ihnen für das Gespräch!“

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