Bad Wildungen: Gedenkfeier zur Reichsprogrom-Nacht 1938 (I)

Ansprache von Pfarrer Christof Hartge

Pfarrer Christof Hartge bei seiner Ansprache zum Genken an die Reichsprogromnacht 1938. (Foto: M. Zimmermann)

Zum 80. Jahrestag der Reichsprogromnacht fand auf dem jüdischen Friedhof unter Teilnahme von etwa 70 Menschen eine Gedenkfeier statt. Die musikalische Umrahmung hatte der Posaunenchor Bad Wildungen übernommen. Heute dokumentieren wir die Ansprache von Pfarrer Christof Hartge. Die Ansprache von Bürgermeister Ralf Gutheil folgt später. (hmz)

Sehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrte Damen und Herren,
im ersten Teil der Bibel gibt es ein Schlüsselwort. Es lautet hebräisch sachar. Zu Deutsch: „gedenken“ oder auch: „erinnern.“
Es taucht immer dann auf, wenn Grund dafür da war, sich dankbar zu erinnern. Es bedeutet aber auch erinnern im Sinne von „aufsuchen“. Wie konnte geschehen, was geschehen war? Was muss getan werden, um einen neuen gesegneten Weg zu finden?
Heute stehen wir hier als Bürger unserer Stadt. Und wir sind hier zum Gedenken, dass vor achtzig Jahren in dieser Stadt ein Pogrom stattfand. Und dieses Erinnern ist so wichtig, wie es zu Zeiten der Bibel wichtig war. Und das möchte ich hier ausführen:
Wir erinnern uns gemeinsam an die Reichspogromnacht. Wir gedenken auch der Wildunger Bürger, die in dieser Nacht ihrer Rechte, ihres Besitzes und in vielen Fällen ihres Lebens beraubt wurden. Der Raub reichte bis in das Gedächtnis. Nach 1945 begann eine lange Zeit des Vergessens. Niemand wusste oder niemand wollte noch wissen, was genau in dieser Nacht geschah? Wer hatte die Verbrechen begangen, wer hatte sie veranlasst? Wo lebten die Menschen jüdischen Glaubens? Wo stand ihre Synagoge und wie sah sie aus? Und was war aus den Menschen geworden?
Wenn ich es richtig sehe, dann hat es von 1938 an über sechzig Jahre gebraucht, bis wiederum Bürger dieser Stadt den Mut gefunden hatten, diesen Fragen nachzugehen. Sie fanden auch Antworten. Wer nun will, kann wissen, dass es Bürger dieser Stadt waren, die Verbrechen gegenüber Bürgern dieser Stadt verübt haben.
Jeder, kann auf der Straße sehen, wer hier bis 1938 gelebt hat. An der Ecke Brunnenstraße / Zum Dürren Hagen liegen vier Stolpersteine. Auf zweien steht die Namen „Elias Godlewsky und Lucie Godlewsky. Herr Godlewsky war der letzte jüdische Lehrer. Sie wurden beide verhaftet. Elias konnte noch 1939 nach England entkommen, Lucie wurde 1941 ermordet.
Das sind zwei Steine von über achtzig. Jeder ist ein Erinnerungsanker an einen Menschen. Manchmal der einzige, den es gibt. Was bewirkt nun das Gedenken und Erinnern?
Es bewirkt nicht, dass irgendetwas von dem entschuldigt wird, was damals geschah. Das geht nicht.
Aber es bewirkt, dass wir uns erinnern können. Genauer: Wir können uns gemeinsam erinnern. Eine neue Form von Gemeinschaft ist entstanden. Es ist die Gemeinschaft derer, die sich an die Ereignisse von 1938 erinnern dürfen.
Was ist das Gute daran, dass wir das tun dürfen?
Israel hat das Erinnern, in der Tora, den Propheten und den Schriften überliefert, um für die Zukunft einen gesegneten Weg zu finden.
Und das bleibt das Ziel des gemeinsamen Gedenkens: Darauf acht zu haben, die Möglichkeiten wahrzunehmen, auf denen Segen liegt. Denn Möglichkeiten gab und gibt es immer. Darum ist es wichtig zu sehen, wie alles kam und zu zu lernen, dass es so nicht hätte kommen müssen. Von Philipp Scheidemann, der 1918 die Republik vom Reichstag aus ausrief, führt kein zwingender und notwendiger Weg zur Hitler-Dikatatur in der Reichskanzlei. An so vielen Punkten wäre anderes möglich gewesen, hätte es nur mehr Gemeinsamkeit, mehr ehrliche Erinnerung gegeben.
Deshalb bin ich von Herzen dankbar für die Erinnerungen an jüdisches Leben in unserer Stadt, die wieder lesbar und sichtbar sind. Hüten wir uns vor jedem Versuch, das wieder vergessen zu wollen. Auch sollten wir uns davor hüten, von neuem dem Nationalismus nachzugeben. Er hat uns in 100 Jahren nichts als Unglück gebracht. Ich bin dankbar, dass wir in einem Land leben, in dem die Menschenrechte geachtet werden. Denn auch das ist dieses Jahr ein Jubiläum: Vor 70 Jahren wurde, die UN-Menschenrechts-Charta verabschiedet. Seit dem steht fest, dass jedem Menschen neben vielem anderen Unversehrtheit sowie die volle Religions- und Gewissensfreiheit zukommen. Das zu bewahren und in sich verändernden Zeiten zu garantieren, dazu helfe uns Gott.

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